Ego-State-Therapie

Die Ego-State-Therapie ist ein psychotherapeutischer Ansatz und basiert auf der Annahme, dass die Persönlichkeit eines Menschen aus verschiedenen Anteilen besteht. In der Therapie wird direkt mit jenen Persönlichkeitsanteilen (Ego-States) gearbeitet, die Unterstützung oder Veränderung benötigen.


Es wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch viele verschiedene Ego-States hat und jeder über eigene Emotionen, Denkweisen, Fähigkeiten und Werte verfügt. Möglicherweise kennen Sie den Sprachgebrauch „Ein Teil in mir sagt oder denkt….“; so wird über eine bestimmte Seite geredet, die man Ego-State nennt.


Beschreibungen von Ego-States:


"Ego-States sind komplexe neuronale Netzwerke, die Gefühle, Körperempfindungen, Kognitionen und Verhaltensweisen in einem bestimmten Augenblick oder über einen bestimmten Zeitraum festhalten"

(J. Peichl)


„Energien der Persönlichkeit, die aus der Interaktion mit der Umwelt entstanden sind und oft der Notwendigkeit entspringen, Probleme zu lösen oder Konflikte zu bewältigen. Sie sind kreative Ausgestaltungen sowohl des Gehirns als auch der Persönlichkeit im Bemühen des menschlichen Organismus, durch die Welt zu kommen, in der er lebt.

Jeder Ich-Zustand besitzt seine eigenen, relativ überdauernden Affekte, Körperempfindungen, Erinnerungen, Fantasien und Verhaltensweisen, und er hat auch seine eigenen Wünsche, Träume und Bedürfnisse. Ich-Zustände stehen in ähnlicher Beziehung zueinander wie Familienmitglieder. Obgleich sie voneinander getrennt sind, tauschen sie doch Informationen aus, stehen in ständiger Kommunikation, weisen sich Rollen zu, verfolgen gemeinsame Projekte, Zwecke und Ziele. Wie in Familien kann es auch hier Grüppchen und Allianzen geben und ebenso Feindseligkeiten und Konflikte.“

(Claire Frederick 2007, S. 19)


Stellen Sie sich vor, Sie schauen sich ein Fußballspiel an. Im Verlauf des Spiels schießt Ihre favorisierte Mannschaft das entscheidende Tor. Wie fühlen Sie sich? Ein Fan würde wahrscheinlich die Arme hochreißen und seiner Euphorie Ausdruck geben. Er wäre sozusagen in einem Zustand des Glückstaumels. Fußball hat für diesen Fan eine Bedeutung. Möglicherweise trägt er die entsprechende Fankleidung, seine Sprache, Gestiken, Verhaltensweisen, Gefühle, Gedanken und Bedürfnisse sind in einem bestimmten Zustand. Man könnte von einem Fußballfan Ego-State sprechen, der zu dieser Persönlichkeit gehört. Nun stellen Sie sich vor, dieser Fan geht auf eine Beerdigung, weil ein guter Freund verstorben ist. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird er in einem Trauerzustand sein, der nichts mit den Emotionen des Fußballfans zu tun hat. Beide Ego-States gehören zu dieser Persönlichkeit. Sie unterscheiden sich deutlich voneinander, haben spezifische Funktionen und erfüllen unterschiedliche Grundbedürfnisse. Man kann somit sagen, dass jeder innere Ich-Zustand über ein eigenes Wertesystem, eigene Denkweisen, Bedürfnisse und Gefühle verfügt.

 

Problematisch wäre es, wenn es keinen Zugang zu diesen Persönlichkeitsanteilen gäbe. Dann könnte es passieren, dass der euphorische Ego-State plötzlich in der Trauerhalle auftaucht und sich freut statt zu trauern. Sicherlich würde das einige Menschen betroffen stimmen. Eine stabile Persönlichkeit wird auf jeweilige Situationen angemessen reagieren. Seine Ego-States leben in Einklang miteinander, sie akzeptieren sich gegenseitig und können sich sogar unterstützen. In der Regel wollen Ego-States helfen.



Entstehung von Ego-States:


Sie entstehen durch häufige Wiederholungen einer Tätigkeit oder Handlung im Lauf des Lebens. Aufgrund der häufigen Wiederholungen entwickeln sich spezifische Nervenbahnen und Nervenbindungen. Ein Ego-State ist demnach ein physischer Teil des menschlichen Gehirns, nämlich ein Strang von Nervenfasern, welcher für spezifische Fähigkeiten und Emotionen trainiert wurde.


Ego-States erkennt man an bestimmten Gedankengängen oder Sprachmustern:


  • Ein Teil oder eine Seite in mir...
  • Einerseits, andererseits...
  • Mir ist als ob eine Stimme in mir sagt...
  • Ich weiß nicht, was richtig und was falsch ist...
  • Als ob ich plötzlich ein anderer Mensch bin....
  • Plötzlich bin ich wie ausgewechselt...
  • In diesem Zustand erkenne ich mich kaum wieder...
  • Hin- und her gerissen oder zerrissen sein...
  • Manchmal weiß ich nicht, wer ich bin...
  • Dann denke ich, dass es nicht zu mir gehört....


Folgenden Symptome können durch Ego-States verursacht werden:


  • Selbstabwertung, Selbstvorwürfe, Selbstzweifel, Selbstverurteilung
  • Emotionale Instabilität, Stimmungsschwankungen
  • Chronische  Unzufriedenheit
  • Körperliche Symptome
  • Schlafstörungen
  • Essstörungen
  • Angststörungen
  • Depressionen


Im Sinne von Goethes Faust »zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust« (Goethe, Faust I, Vers 1112)


Aufzählungen dieser Art gibt es noch viele, möglicherweise können Sie selber noch einige hinzufügen.


Was passiert, wenn Ego-States nicht im Einklang miteinander sind?


Möglicherweise kennen Sie Stimmungsschwankungen, wenn plötzlich eine Emotion vom Hoch ins Tief fällt. Unbewusste oder bewusste Auslöser können zum Beispiel einen selbstunsicheren, ängstlichen oder auch wütenden Ego-State aktivieren, der sich nicht mehr kontrollieren lässt. Oder Sie sind immerzu unentschlossen, können schwer Entscheidungen treffen, weil Sie nicht wissen, was richtig oder falsch ist. Vielleicht spüren Sie zwei Seiten; die eine sagt ja, die andere nein. Hin- und hergerissen oder gar innerlich zerrissen. Manchmal höre ich in meiner Praxis den Satz: "Ich hasse mich, wenn ich so bin." Das sind typische Anzeichen für Ego-States, die miteinander im Konflikt sind; sie stören die innere Ruhe. Klassische Symptome sind:


    • Rastlosigkeit

    • Sich getrieben fühlen 

    • Innere Unruhe bis zur Nervosität

    • Unzufriedenheit

    • Negative Gefühle

    • Innere Anspannung

    • Körperliche Symptome

    • Ängste, Depressionen u. v. m..



Ziel der Ego-State-Therapie:


Kennenlernen der Aufgaben und Funktionen der inneren Anteile, damit sie konstruktiv nutzbar eingesetzt werden können. Zum Beispiel, dass Sie sich bei Druck oder Bedrohung abgrenzen und wehren können, oder für emotionale Erfahrungen offen sind. In harmonischer Beziehung zueinander kann sich gegenseitiges Verstehen entwickeln. Die Vorzüge der anderen Ego-States können hilfreich zur Verbesserung der Lebensqualität eingesetzt werden.

 

Das Vorhandensein der anderen Meinungen soll akzeptiert und respektiert werden. Sich nicht mehr gegenseitig bekämpfen, sondern konstruktiv miteinander wirken sowie sich gegenseitig anzuerkennen, basierend auf beidseitigem Verständnis.

 

Stellen Sie sich vor, in Bezug auf Entscheidungen oder Handlungen ambivalent zu sein. Eine Seite möchte z.B. arbeiten, die andere möchte sich ausruhen. Das führt zu einem inneren Konflikt. Beide Zustände müssen nun lernen miteinander zu kommunizieren, Kompromisse einzugehen und zusammenzuarbeiten statt gegeneinander.

 

Es sollen Ich-Zustände gefunden werden, die Schmerz, Trauma, Wut oder Frustration verbergen. Diesen soll dann geholfen werden, sich davon zu befreien, indem sie Gelegenheit haben, sich auszudrücken und indem sie getröstet, geschützt und gestärkt werden.

 

Ein Ego-State kann niemals verschwinden, jedoch kann er transformiert werden. Das bedeutet, dass ihm neue Aufgaben zugeordnet werden. Wenn ein Anteil, zum Beispiel ein innerer Kritiker, immer wieder auf einen Fehler oder einer Schwäche mit Vorwürfen reagiert, könnte man ihm beibringen, die Vorwürfe durch empathisches Denken und Handeln zu ersetzen. Er würde mit der Zeit begreifen, dass Mitgefühl mehr nutzt als Schuldzuweisungen. Diese korrigierende Erfahrung würde die Möglichkeit bieten, gelassener auf gemachte Fehler zu reagieren.

 

Ein normaler Ego-State ist nicht geschwächt, sondern kann den Alltag gut bewältigen. Er trägt zu einer guten Lebensqualität bei, die sich durch innere Ruhe, Zufriedenheit und Harmonie auszeichnet.

 

Geschwächte und verletzte Anteile beeinträchtigen wegen oben genannter Symptome die Lebensqualität. Diese gilt es in der Therapie zu stärken und zu versorgen.